Wir meinen ganz klar: Ja, trotz der hohen Überschuldungssituation der Wirecard AG. Insbesondere sind wir davon überzeugt, dass die geschädigten Anleger als gleichrangige Gläubiger neben den unbesicherten kreditgebenden Banken zu behandeln sind (dazu sogleich).
Auch wenn eine genaue Bezifferung der Schadenskompensation naturgemäß nur schwer möglich ist, halten wir es für realistisch, dass im Insolvenzverfahren eine quotale Erfüllung Ihrer Schadensersatzforderungen in einem zweistelligen Prozentbereich erreicht werden kann.
Kontrovers diskutiert ist auch die Frage der insolvenzrechtlichen Behandlung von Aktionärsschäden. Der Fall Wirecard stellt einen bis dato nie vorgekommenen Skandal in der deutschen Börsengeschichte dar. Die hieran anknüpfenden Sach- und Rechtsfragen sind komplex und teils weder gesetzlich geregelt noch höchstrichterlich entschieden. Hieraus folgt, dass jede Gläubigergruppe nun versuchen wird, ihre eigenen Interessen optimal durchzusetzen und einen größtmöglichen Anteil an der zur Verteilung stehenden Insolvenzmasse zu vereinnahmen.
Aufgrund der gegenläufigen Interessen der Gläubigergruppen gibt es die juristische Diskussion um die materiell-rechtlichen Anspruchsgrundlagen, auf denen die einzelnen Forderungen beruhen und deren Einordnung im Insolvenzrecht.
Hintergrund: In einer Pressemitteilung vom 23. November 2022 teilte das Landgericht München I (LG) mit, dass die unter anderem gegen den Insolvenzverwalter der Wirecard AG gerichtete Klage einer Kapitalverwaltungsgesellschaft auf Feststellung von Schadenersatzforderungen zur Insolvenztabelle abgewiesen wurde.
Das Urteil der 29. Zivilkammer vom 23. November 2022 (Az. 29 O 7754/21) ist bisher weder rechtskräftig noch veröffentlicht. Es handelt sich um ein Verfahren, welches nicht von unserer Kanzlei geführt wurde. Aus diesem Grund ist eine rechtliche Analyse des Urteils erst nach dessen Veröffentlichung möglich.
Die Pressemitteilung des LG steht – aus unserer Sicht – in Widerspruch zum Hinweisbeschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) (II. Zivilsenat) vom 29. Mai 2006 und dem Beschluss des IX. Zivilsenat vom 19. Mai 2022. Beide Zivilsenate sind der Auffassung, dass „derartige Schadenersatzforderungen des durch Betrug bzw. arglistige Täuschung zum Vertragsschluss verleiteten Anlegers […] ihre Wurzeln nicht in dem Vertrag selbst, sondern in den schädigenden Ereignissen, die erst zum Abschluss des Vertrages mit der betreffenden nachteiligen Nachrangklausel führten [haben].“ Geschädigte Anleger sind, zumindest in der vom BGH bereits entschiedenen Konstellation, nicht nachrangig zu behandeln.
In beiden streitgegenständlichen Konstellationen vor dem Bundesgerichtshof ging es jedoch um Genussrechte. Mit welcher Begründung das LG eine unterschiedliche Behandlung von Aktionären und Genussrechtsinhabern rechtfertigt, wird möglicherweise dem ergangenen Urteil zu entnehmen sein.
Da dieses Urteil bisher nicht rechtskräftig ist, ist vor dem Hintergrund der eben angesprochenen Haltung des BGH damit zu rechnen, dass die Klägerpartei Rechtsmittel einlegt, wovon (wohl) auch der Insolvenzverwalter ausgeht. Das letzte Wort in dieser Rechtsfrage wird wohl dem Bundesgerichtshof vorbehalten bleiben, weshalb sich für geschädigte Wirecard-Aktionäre zunächst nichts ändert. Auch der Insolvenzverwalter geht von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes aus, weshalb bis zur endgültigen Klärung dieser Rechtsfrage auch keine Abschlagszahlungen an andere Gläubiger vorgesehen seien.